Hebammenstrafrecht und der Beginn des Lebens
Vorsatz vs. Fahrlässigkeit | Tötungsdelikt vs. Schwangerschaftsabbruch
Hebammen arbeiten an dem Beginn des Lebens – in mehrerlei Hinsicht. Zum einen tun sie alles erdenklich Mögliche, um Müttern eine schöne, sichere Geburt zu bescheren und den Neugeborenen den bestmöglichen Start in das Leben zu ermöglichen. Von daher ist es in aller Regel abwegig, wenn ihnen, sollte es zu Komplikationen oder sogar zum Tod des Babys kommen, ein Gericht eine vorsätzliche Tötung unterstellt. Das Landgericht Verden, das sich (wie die Staatsanwaltschaft Verden) schon mehrfach als nicht gerade firm im Medizinstrafrecht gezeigt hat, hat genau das getan: eine Hebamme wegen Totschlags verurteilt. Dieses Urteil hat der Bundesgerichtshof zu Recht aufgehoben. Zum anderen sind Hebammen aber auch juristisch am Beginn des Lebens tätig, an der Grenze nämlich zwischen Leibesfrucht und Mensch. Auch dazu hat der BGH etwas gesagt, wenn auch weit weniger überzeugend.
Der Fall
Die Angeklagte war zu Beginn ihrer beruflichen Tätigkeit als angestellte Hebamme im Klinikbetrieb tätig, machte sich aber 1998 selbstständig, wobei sie – so das Tatgericht – im Laufe ihrer Tätigkeit „zunehmend tiefgreifende Vorbehalte gegen Krankenhausgeburten [entwickelt habe], die sich spätestens im Jahr 2009 zu der ideologischen Sichtweise verfestigten, dass die natürliche Hausgeburt der Klinikentbindung uneingeschränkt vorzuziehen sei.“ Der Sachverhalt, der Gegenstand des Strafverfahrens im niedersächsischen Verden war, trug sich im Jahr 2015 zu.
Am 9. Januar 2015, sechs Tage nach dem errechneten Geburtstermin, sei es gegen 5:00 Uhr bei einer 39-jährigen Schwangeren zum Blasensprung gekommen; abends hätten die Eröffnungswehen eingesetzt. Die Geburt sei jedoch nur sehr langsam vorangeschritten und habe sich über mehrere Tage hingezogen. Die Angeklagte habe die „Schwangere“ (zu den Anführungszeichen unten) wiederholt mit der Zusicherung beruhigt, dass sie sofort eine Verlegung in ein Krankenhaus veranlassen würde, wenn die Geburt nicht voranschreite.
Am 11. Januar 2015 um 4:20 Uhr habe die Angeklagte einen Test durchgeführt, mit dem sie den zwei Tage zuvor erfolgten Blasensprung sicher diagnostiziert habe.
Am 12. Januar 2015 um 19:30 Uhr sei der Muttermund sieben bis acht Zentimeter geöffnet gewesen.
Am 13. Januar 2015 um 4:45 Uhr habe die Nebenklägerin einen stechenden Schmerz im Bauch verspürt und sie habe fortan keine Kindsbewegungen mehr wahrgenommen. Die Hebamme habe festgestellt, dass der Muttermund sich seit der letzten Untersuchung nicht vergrößert gehabt habe. Gegen 6:30 Uhr habe sich die Wehentätigkeit verringert. Um 13:15 Uhr habe die angeklagte Hebamme festgestellt, dass der Herzschlag des Kindes nicht darstellbar gewesen sei. Eine sofort veranlasste Ultraschalluntersuchung bei der Hausärztin der Nebenklägerin habe einen stark verlangsamten Herzschlag des Kindes offenbart, woraufhin ein Rettungswagen alarmiert wurde. Spätestens auf dem einstündigen Transport in das Krankenhaus sei „das Neugeborene“ an einer Hypoxie durch Aspiration eitrigen Fruchtwassers gestorben. Die Mutter habe das Kind mithilfe der Zugabe wehenfördernder Mittel am 13. Januar 2015 um 21:22 Uhr tot zur Welt gebracht.
Die Entscheidung des Tatgerichts
Das Landgericht Verden hat die Angeklagte wegen Totschlags durch Unterlassen in Tateinheit mit Körperverletzung durch Unterlassen zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.
Zu den medizinisch relevanten Zusammenhängen hat das sachverständig beratene Landgericht im Wesentlichen festgestellt, dass nach einem Blasensprung regelmäßig Blut und Körpertemperatur der Kindsmutter auf Entzündungszeichen zu untersuchen seien, weil mit der Eröffnung der Fruchtblase das Risiko einer Fruchtwasserinfektion einhergehe. Dem sei die Angeklagte im Verlauf der Geburt zu keinem Zeitpunkt nachgekommen. Zudem sei laut den „Leit- und Richtlinien der Geburtshilfepraxis“ nach Eröffnung der Fruchtblase innerhalb von 18 beziehungsweise spätestens 24 Stunden eine – in der Regel prophylaktische – Antibiotikatherapie durchzuführen, wenn nicht absehbar sei, dass die Geburt unmittelbar bevorstehe. Sei dies mangels ärztlicher Beteiligung bei der Hausgeburt nicht möglich, sei die Verlegung in ein Krankenhaus zu veranlassen. Bei der zwingend gebotenen Verlegung der Nebenklägerin 24 Stunden nach der sicheren Diagnose des Blasensprungs, mithin am 12. Januar 2015 um 4:20 Uhr, wäre der Tod des „Kindes“, so das Landgericht Verden mit „an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ zu vermeiden gewesen. Im Falle einer Verlegung bis zu dem „für die Angeklagte günstigsten zu unterstellenden, zugleich letztmöglichen Zeitpunkt am 13. Januar 2015 um 4:45 Uhr“ hätte nur noch eine gewisse Wahrscheinlichkeit für das Überleben des Kindes bestanden.
Zu der Frage des Vorsatzes hat das Landgericht Verden ausgeführt, unter „dem Einfluss ihrer manifesten ideologischen Sichtweise habe die Angeklagte im Rahmen der Betreuung der Nebenklägerin ‚in arroganter und selbstüberschätzender Art und Weise‘ entgegen allen medizinischen und geburtshilflichen Standards und der für Hebammen geltenden gesetzlichen und berufsordnungsrechtlichen Regelungen gehandelt.“ Ihr seien die geltenden Leit- und Richtlinien sowie die zugrundeliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse bekannt und sie sei sich insbesondere darüber im Klaren gewesen, dass aus einer unterbliebenen Antibiotikabehandlung das große Risiko und die hohe Wahrscheinlichkeit einer Fruchtwasserinfektion resultierten und die zwingende Folge einer unbehandelten Fruchtwasserinfektion bei nicht alsbald erfolgender Geburt der Tod des Kindes sei. Bereits am 12. Januar 2015 um 4:20 Uhr habe die Angeklagte nicht mehr auf einen günstigen Ausgang der Geburt vertrauen können und dürfen. Jedenfalls sei der Tod des Kindes bei weiterem Untätigbleiben der Angeklagten am 13. Januar 2015 um 4:45 Uhr sicher gewesen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt habe sich die Angeklagte mit dessen Tod abgefunden.
Die Entscheidung des BGHs
Der Bundesgerichtshof hat in seinem Beschluss vom 02.11.2023 (6 StR 128/23) zu zwei Fragen Stellung genommen: zu der Verurteilung wegen einer Vorsatztat, und zu der Frage, wann die Vorschriften zum Schwangerschaftsabbruch enden und die Körperverletzungs- und Tötungsdelikte beginnen.
Zum Ersten, der Vorsatzfrage, meldete der BGH durchgreifende rechtliche Bedenken an. Fakt ist: Ein Unterlassen ist nur dann ursächlich für den Erfolg, wenn dessen Eintritt bei Vornahme der gebotenen Handlung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert worden wäre. Das aber ist hier nicht festgestellt. Wiewohl das Tatgericht davon ausging, dass der angeklagten Hebamme bereits am 12. Januar 2015 um 4:20 Uhr bewusst gewesen sei, dass sie sich mit ihrem Verhalten „konträr zu allen ärztlichen Leitlinien und solchen des Hebammenberufes verhalten habe und dass aufgrund des unverhältnismäßig lang andauernden Geburtsverlaufs erhebliche Risiken für das Leben des Kindes bestanden hätten“, weshalb sie zu diesem Zeitpunkt, in dem der Tod des Kindes bei der gebotenen Verlegung der Nebenklägerin in ein Krankenhaus „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hätte verhindert werden können“, auf einen günstigen Ausgang der Geburt nicht mehr habe vertrauen dürfen, setzt sich das Tatgericht an anderer Stelle zu diesen Ausführungen in Widerspruch. Denn wenn es schreibt, dass der Angeklagten „spätestens […] am 13. Januar 2015 um 04:45 Uhr klar und bewusst [war], dass ein weiteres Zuwarten […] unweigerlich zum Tod“ des ungeborenen Kindes führen würde und „sie sich spätestens zu diesem Zeitpunkt“ mit dem Tod des Kindes abgefunden habe, ergibt sich daraus, dass das Landgericht erst für den frühen Morgen des Todestags den Tötungsvorsatz der Angeklagten festgestellt hat. Zu diesem Zeitpunkt bestand jedoch nach den Feststellungen nur noch eine „gewisse“ Wahrscheinlichkeit für die Rettung des Kindes und keine an Sicherheit grenzende. Das Urteil war deshalb aufzuheben, damit das neue Tatgericht, sofern es auch zur Feststellung eines Vorsatzes kommen sollte, widerspruchsfreie Feststellungen zum Tötungsvorsatz treffen kann.
Zum Zweiten, zu der Frage des Beginns des Lebens im Sinne der Tötungs- und Körperverletzungstatbestände des StGB, gab der BGH eine altbekannte Antwort: Mit Einsetzen der Eröffnungswehen, hier am 9. Januar 2015, endeten die Regeln zum Schwangerschaftsabbruch und begann das Menschsein im Sinne der § 211 ff. StGB. Argument hierfür sei zum einen der längt außer Kraft getretene § 217 StGB a. F., vor allem aber der Umstand, dass eine Schwangerschaft nicht mehr abgebrochen werden könne, wenn sie sich bereits in Selbstauflösung befindet, was aus medizinischer Sicht grundsätzlich bereits dann der Fall sei, wenn die Eröffnungswehen eingesetzt haben. Ferner sei der hieraus resultierende strengere Strafrechtsschutz deshalb geboten, weil auch die Eröffnungsperiode zu dem Zeitraum gehöre, in dem bspw. bei Wehenschwäche und bei starken Wehen, aber auch bei Vorliegen von Geburtshindernissen medikamentöse und operative Geburtshilfen erforderlich werden könnten – bereits in dieser Phase bedürfe das Kind daher des besonderen strafrechtlichen Schutzes auch gegenüber fahrlässigen Einwirkungen.
Konsequenz konkret
Das Zweite zuerst: Dass der BGH den Anwendungsbereich der § 211 ff. StGB ab Einsetzen der Eröffnungswehen eröffnet sieht, führt konkret hier dazu, dass die Mutter ihr Kind ab dem 9. Januar 2015 noch vier Tage in sich trug, in dieser Zeit aber keine „Schwangere“ mehr war und es sich nicht mehr um ungeborenes Leben handelte. Das ist reichlich absurd, nicht nur weil von 100 Personen, die der Frau über die vier Tage ansichtig würden, wohl so gut wie niemand annehmen würde, dass die Schwangerschaft schon beendet und das „Baby“ nicht mehr ungeboren war – auch die Begründung ist „sportlich“. Das Wortlautargument, eine sich in Selbstauflösung befindliche Schwangerschaft könne nicht mehr abgebrochen werden, ließe sich auch umdrehen: Was noch in Selbstauflösung befindlich ist, hat sich folglich noch nicht selbst aufgelöst, besteht also noch, und was noch besteht, kann abgebrochen werden. Und gilt dieses Argument dann auch am Lebendsende? Ob sich ein Mensch in einer terminalen Sterbephase, sich also sein Leben „in Selbstauflösung“ befindet, war dem BGH bisher egal; allein die Verkürzung des Lebens um zumindest mehrere Stunden ist mit Blick auf die Tötungsdelikte ausreichend. Kann ein sich bereits in Selbstauflösung befindendes Leben – nach dieser Entscheidung hier – dann überhaupt noch beendet werden? Wir müssen mit dieser BGH-Entscheidung leben; sie wird sich so schnell nicht ändern. Wenig durchdacht ist sie dennoch.
Zum ersten Punkt, dem Vorsatz: Hier zeigt sich – konkret-individuell –, dass eine genaue Betrachtung der Fakten wie der Rechtsprechung zwingend ist. Korrekt noch war das Landgericht bei der Beurteilung des Tötungsvorsatzes von den privilegierenden Grundsätzen ausgegangen, die die Rechtsprechung für Angehörige eines medizinischen Heilberufs entwickelt hat: So hat der BGH ganz grundsätzlich ausentschieden, dass im Verhältnis zwischen Behandlerin und Patientin selbst bei einem grob fehlerhaften Verhalten die Annahme, die Art und Weise der Behandlung sei nicht am Wohl der Patientin orientiert, häufig fernliegt. Zur Feststellung einer vorsätzlichen Schädigung von Leib oder Gesundheit eines Menschen sind demgemäß sehr hohe Hürden zu überwinden, weil derartige Handlungen zum Nachteil von Patientinnen nach der Lebenserfahrung regelmäßig die Ausnahme sind. Das gilt selbst in solchen Fällen, in denen der Ernst der Lage völlig verkannt wird; auch dann ist nur fahrlässiges Handeln denkbar – sagt die Rechtsprechung. Dann aber hier einen Vorsatz anzunehmen und diesen mit einer ideologischen Sichtweise der Hebamme zu begründen, die in einer Ablehnung von Klinikentbindungen kulminiere, greift dann u. U. doch zu kurz. Zwei Gedanken dazu: Wer den Tod eines Patienten in Kauf nimmt, billigt damit die Vernichtung der eigenen beruflichen Existenz. Kann das einfach so unterstellt werden? Und: Wer (aus einer vermeintlichen Ideologie heraus) zeigen will, dass die Hausgeburt einer Entbindung in der Klinik vorzugswürdig ist, tut alles dafür, Hausgeburten nicht in Misskredit zu bringen und findet sich mit möglichen Todesfällen nicht einfach so ab. Die Annahme von Vorsatz überzeugt mit der bisherigen Begründung nicht.
Konsequenz darüber hinaus
Über diesen Einzelfall hinaus zeigt dieser Fall – abstrakt-generell –, dass das Medizinstrafrecht selbst Landgerichte (und leider viel zu häufig auch die dortigen Staatsanwaltschaften) regelmäßig überfordert. Die Aufhebung des Urteils durch den BGH basierte auf einem basalen Rechtsfehler des Landgerichts, den zu begehen auf eine krasse Sorglosigkeit im Umgang mit dem Recht und auch mit der Angeklagten schließen lässt. Wer einer Hebamme attestiert, sich „‚in arroganter und selbstüberschätzender Art und Weise‘ entgegen allen medizinischen und geburtshilflichen Standards“ verhalten zu haben, sollte selbst bestenfalls keine so trivialen Fehler in der Rechtsanwendung begehen und einen Menschen auf dieser Grundlage vier Jahre seiner Freiheit berauben wollen.
Ferner zitiert der BGH das Landgericht damit, der Hebamme seien „die geltenden Leit- und Richtlinien sowie die zugrundeliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse“ bekannt gewesen. Offenkundig ist dem Landgericht aber nicht einmal der Unterschied zwischen Leit- und Richtlinien bekannt – dass es in diesem Bereich Richtlinien gab, also verbindliche Regelungen, die von rechtlich legitimierten Institutionen festgelegt worden sind, wäre (mir) neu. Inwiefern das Landgericht dann überhaupt fähig war, ein gutes Gutachten in Auftrag zu geben und den oder die Sachverständige korrekt zu befragen und verstehen, bleibt offen. Alles in allem ist dieses erstinstanzliche Urteil ein Armutszeugnis.
Für Beschuldigte, gerade im Gesundheitswesen, heißt das, dass sie vermittels einer versierten Verteidigung bestenfalls schon frühzeitig im Ermittlungsverfahren agieren sollten, um die Involvierung eines Landgerichts und mithin eine öffentliche Hauptverhandlung zu vermeiden. Dass das leider nicht bei jeder Staatsanwaltschaft klappt, weil auch dort Ressourcen und medizinstrafrechtliches Wissen mitunter rar sind, dafür das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten groß, darf nicht desillusionieren: Wer es gar nicht erst versucht, läuft allzu häufig in eine Anklage hinein – mit der großen Gefahr, auf ein Gericht zu stoßen, dass fachlich überfordert ist und dessen Entscheidung eher emotional getriggert denn medizinstrafrechtlich korrekt begründet ist.
Wer Interesse an einer noch ausführlicheren Bewertung dieser BGH-Entscheidung hat, wird im Übrigen fündig bei Vogel, JR 2024, 416 ff. (die Anmerkung findet sich im Anschluss an die Entscheidung).
Ansprechpartner
Dr. Sebastian T. Vogel