Gefahrenquellen sind zu sichern, sind zu überwachen, und wenn die Überwachung auf eine andere Person übertragen worden ist, ist die Überwachung zu kontrollieren. Was so „einfach“ klingt, ist in der Realität noch weitaus komplexer. Welche Sicherung ist ausreichend? Wer muss was tun? Wer darf worauf vertrauen? Und auf wen? Und überhaupt: Was, wenn erst nach Eintritt der Gefahr überhaupt erkannt wird, dass es sich um eine Gefahrenquelle gehandelt hat? Im Nachhinein ist man immer klüger – und dann kann es zu spät sein, weil jemand in den Brunnen gefallen, ausgerutscht oder (wie in dem hier besprochenen Fall) überrollt worden ist. Und dann ist „man“ vielleicht eine Staatsanwaltschaft oder ein Strafgericht, die bzw. das klug daherredet, was „man“ hätte besser machen müssen.

Der Fall

Von einem tragischen Unfall in dem Jahr 2019 handelt eine Anklage der Staatsanwaltschaft Verden (von Februar 2023), bei dem ein zehnjähriges Kind starb: Beim Spielen sei das Kind, so die Anklage, von einer außerhalb eines Spielplatzes auf einem Schienenstrang abgestellten, in eine Sitzbank umgebauten, tatsächlich aber durch Schieben beweglichen ca. 400 kg schweren Lore überrollt und getötet worden. Die Kinder hätten die Lore in beide Richtungen geschoben, wobei stets einige Kinder auf der Lore saßen und einige Kinder sich vor, neben und hinter der Lore aufgehalten hätten. Aus ungeklärter Ursache sei der Zehnjährige vor der Lore zu Fall gekommen und sei von dieser im Bereich der Brust überrollt worden. Er starb noch an Unfallort. Dabei habe die Lore nicht den Vorschriften DIN EN 1176 entsprochen und wäre mithin nicht als Spielgerät zugelassen worden.

Angeklagt wurde zum Ersten eine angestellte Försterin, die für die Besucher zuständig gewesen sei. Sie habe die Einweisung der Schulklasse, der das Kind angehört habe, in das Gelände vorgenommen, wobei sie nicht, obgleich ihr das bekannt gewesen sei, auf die Beweglichkeit und die damit verbundene Gefährlichkeit der Lore hingewiesen habe. Die Lore sei „eindeutig erkennbar“ nicht mit einem irgendwie gearteten Schutz versehen gewesen, der es verhindert hätte, dass Gegenstände oder Personen unmittelbar vor die Räder geraten und bei fahrender Lore von dieser überrollt werden können. Die angeschuldigte Försterin, so die Anklage, hätte das Spielen mit der Lore verbieten, jedenfalls die Lehrer und Schüler auf die Gefährlichkeit des Spielens mit der Lore hinweisen müssen. Hätte sie die nötigen Hinweise an die Lehrer und Schüler erteilt, wäre es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zu dem Unfall und dem damit verbundenen Tod des Kindes gekommen.

Angeklagt wurde zum Zweiten der Leiter des Waldpädagogikzentrums, auf dem die Lore stand (er war Leiter seit 2017), der es unterlassen habe, die Lore, die bereits seit 2013 in der Form auf dem Gelände gestanden habe und mindestens seit 2016 als fahrbereites Spielelement genutzt worden sei, sicherheitstechnisch überprüfen zu lassen oder diese Aufsicht an eine andere Person zu übertragen. Das Gelände sei jährlich durch eine dritte Person begutachtet worden, der jedoch durch den Leiter in fahrlässiger Weise nicht mitgeteilt worden sei, dass die Lore fahrbereit war und in dieser Form zum Spielen von Kindern genutzt wurde. Hätte der Angeschuldigte, so die Staatsanwaltschaft, die notwendigen Maßnahmen (Überprüfung und Sicherung der Lore) ergriffen oder ergreifen lassen, wäre es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zu dem Unfall und dem Tod des Kindes gekommen.

Beide wurden angeklagt wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen, §§ 222, 13 StGB.

Das Landgericht Verden hat die Anklage gegen die Försterin zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. Hinsichtlich des Leiters des Pädagogikzentrums hat es die Eröffnung des Hauptverfahrens aus tatsächlichen Gründen abgelehnt, da er der angeklagten Tat nicht hinreichend verdächtig sei. Gegen die Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens richtete sich die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Verden mit dem Ziel, die Zulassung der Anklage und die Eröffnung des Hauptverfahrens auch hinsichtlich dieses Angeschuldigten zu beschließen.

Die Entscheidung

Das OLG Celle hat entschieden, dass das Hauptverfahren gegen den angeschuldigten Zentrumsleiter zu Recht nicht eröffnet worden ist. Einen hinreichenden Tatverdacht bzgl. einer Strafbarkeit sah der Senat nicht; er musste sich nicht vor Gericht verantworten, weil es an einer ausreichenden objektiven Sorgfaltspflichtverletzung im Hinblick auf seine Überwachungspflichten gefehlt habe (OLG Celle, Beschl. v. 07.09.2023 – 2 Ws 244/23).

Zwar sei der Angeschuldigte sog. Überwachergarant gewesen für solche Gefahren, die von seiner Eigentumssphäre und insbesondere von darin befindlichen gefährlichen Gegenständen ausgingen. Ihn habe eine Verkehrssicherungspflicht getroffen, also die Pflicht, potenziell gefährliche Sachen auf seinem Grundstück fortlaufend zu überwachen sowie schadensgeneigte Zustände alsbald zu beseitigen oder so unter Kontrolle zu halten, dass sich Gefahren nicht verwirklichten. Dabei seien die Anforderungen an den für die Gefahrenquelle Zuständigen umso höher, je größer bei erkennbarer Gefährlichkeit einer Handlung die Schadenswahrscheinlichkeit und die Schadensintensität sind. Und wo ein besonderer Anreiz gerade für den Spieltrieb bei Kindern besteht, müsse einer Gefahr, die das Kind nicht erkennen kann, durch entsprechende Sicherungsmaßnahmen begegnet werden. Darauf, dass gefährliche Objekte bereits auf dem Gelände waren, bevor ein Eigentümer in die Verantwortlichkeit eintritt, komme es grundsätzlich nicht an. Auch mache die Übertragung von Verkehrssicherungspflichten auf andere Personen im Sinne horizontaler oder vertikaler Arbeitsteilung nicht gänzlich frei von Verantwortung. Vielmehr bestünden (zum Teil andere) Pflichten fort, bei der vertikalen Arbeitsteilung etwa die Pflicht zu einer sorgfältigen Auswahl der Person und deren Instruktion zur Erfüllung der übertragenen Aufgabe sowie im Nachgang der Übertragung die Pflicht zu einer allgemeinen – jedenfalls stichprobenartigen – Überwachung, die dabei umso strenger sei, je höher die drohende Gefahr ist. Im Rahmen der Überwachung dürfe man sich jedenfalls nicht lediglich auf das ordnungsgemäße Handeln des Delegaten verlassen, und es verblieben umso mehr Pflichten bei dem Delegierenden, je weniger demjenigen, dem eine Aufgabe übertragen worden ist, Handlungsspielraum zukommt.

Hier war der Umfang der Überwachungs- und Kontrollpflichten des Angeschuldigten aber gering, weil bei der Försterin ein hohes Maß an Eigenverantwortlichkeit anzunehmen und zudem das Ausmaß der Gefahrenquellen und drohenden Gefahren auf dem Gelände nicht nennenswert erhöht gewesen sei. Anders als bei komplexen oder besonders gefahrgeneigten Großbauprojekten wie dem U-Bahn-Bau am Kölner Stadtarchiv oder einem Traggerüstbau an der Wuppertaler Schwebebahn seien derart gesteigerte Überwachungspflichten nicht vergleichbar mit denen, die sich auf die Wahrnehmung allgemeiner Verkehrssicherungspflichten – wie etwa Streupflichten – durch damit betraute Personen auf einem als nicht außergewöhnlich anzusehenden Außengelände beschränken. Allein der Umstand, dass sich Gegenstände auf dem Gelände befinden, die im Rahmen einer ungewollten Nutzung zur Verursachung schwerster Verletzungen geeignet sind, führe nicht zu einer anderen Beurteilung, solange es die örtlichen Gegebenheiten gleichwohl zulassen, dass die allgemeinen Verkehrssicherungspflichten von der damit betrauten Person zumutbar wahrgenommen werden können.

Seine Kontrollpflicht habe der Angeschuldigte nicht verletzt. So sei u. a. nicht ersichtlich, dass dem Angeschuldigten bekannt war, dass die ungewollte Nutzung der Lore als bewegliches Spielgerät durch Kinder regelmäßig erfolgt sei. Ihn habe auch insoweit keine eigene Pflicht zur Nachforschung getroffen, denn es stelle eine Überspannung der Anforderungen an eine mit Überwachungspflichten betraute Person dar, wenn man von ihr auf Grundlage der allgemeinen Gefahrenabwehrpflicht erwarten würde, eine für sie bis dahin gänzlich unbekannte Gefahrenlage zunächst zu ermitteln. Der Träger von Überwachungs- und Kontrollpflichten sei nicht gleichzusetzen mit dem Träger von Verkehrssicherungspflichten. Eine Kontrollpflicht beinhalte daher auch gerade nicht, die übertragene Aufgabe selbständig vorzunehmen, vorliegend also das Gelände selbst auf Verkehrssicherheit zu prüfen, zumal wenn der eigene Dienstsitz (wie hier) 30 km entfernt sei.

Konsequenz

Verkehrssicherungs- sowie sonstige Sorgfaltspflichten im Umgang mit Gefahrenquellen – seien es solche auf (Groß-)Baustellen, auf Spielplätzen, in Kitas oder Schulen, bei dem Umgang mit Schnee, der rutschig oder schwer (z. B. auf einem Dach) sein kann und so weiter – waren schon häufig Gegenstand von Strafverfahren wegen fahrlässiger Körperverletzung oder fahrlässiger Tötung und sie sind es immer wieder. Die Frage, wen welche Pflicht trifft, ist dabei im Nachhinein, wenn etwas passiert ist, immer leicht zu beantworten (wiewohl manchmal nur die scheinbar leichteste Antwort gewählt wird). Was sorgfaltsgemäß gewesen wäre, was voraussehbar, was vermeidbar war – hinterher sind wir alle klüger.

In solchen Fällen sind zahlreiche Aspekte zu berücksichtigen, die eigentlich schon eine Staatsanwaltschaft klären müsste, die meist aber erst über eine (gute) Verteidigung aufs Tapet kommen. Materiell-rechtlich ist zu klären, welche Pflichten wem oblagen; ob Regeln fehlen oder wie bestimmte existente Regeln (wie DIN, Arbeitsschutzmaßnahmen etc.) zu bewerten sind; was wofür kausal oder quasikausal war; wie die Kommunikation lief; wer warum was tat oder nicht tat. Strafprozessual spielen häufig Gutachten eine Rolle, die korrekt in Auftrag gegeben, erstattet, gelesen und gewürdigt werden müssen. Und auch verfahrenspsychologisch gibt es Phänomene, um die zu wissen eine gute Verteidigung und eine gute Staatsanwaltschaft nicht umhinkommen: den Rückschaufehler (hindsight bias), den Bestätigungsfehler (confirmation), Empathie und einige Aspekte mehr. Nur wer das alles beherrscht, kommt zu richtigen Ergebnissen.

Es war demgemäß korrekt, dem Angeschuldigten hier eine Hauptverhandlung zu ersparen – und falsch, überhaupt eine Anklage zu erheben. Die Staatsanwaltschaft hat sich hier nicht mit juristischem Ruhm bekleckert. Das Landgericht jedoch, das die Eröffnung des Hauptverfahrens teilweise abgelehnt hat, hat Mut bewiesen – und es wäre zu wünschen, dass noch mehr Gerichte das Zwischenverfahren für kluge Nichteröffnungsentscheidungen nutzen und nicht aus antizipierter Angst vor dem Beschwerdegericht „kuschen“.

Im Übrigen, das der Vollständigkeit halber, ist auch das Verfahren gegen die Försterin in öffentlicher Hauptverhandlung gegen Zahlung einer Geldauflage in Höhe von 4.000,00 € eingestellt worden. Glaubt man den Presseberichten, dann trug sie schwer an dem Tod des Kindes. Und wer ein wenig empathisch ist, hätte deshalb vielleicht auch bei ihr besser auf eine Anklage verzichtet und bereits im Ermittlungsverfahren eine Einstellung gegen eine Geldauflage bevorzugt. Aber vielleicht ist auch die Staatsanwaltschaft – im Nachhinein – klüger.

Ansprechpartner
Dr. Sebastian T. Vogel