Wenn auf Baustellen, in der Kita, bei der Arbeit allgemein Unfälle passieren, denken alle nur an die 112. Die Polizei ruft initial instinktiv niemand. Dabei können Arbeitsunfälle durchaus auch ein Fall für die Polizei, die Staatsanwaltschaft, das Gericht werden. Die neueste Statistik der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) zum Arbeitsunfallgeschehen 2022 zeigt: In manchen Bereichen sind Unfälle keine Seltenheit. Und war die Ursache für ein Unglück (möglicherweise) die Verletzung einer Sorgfaltspflicht, dann kann daraus schnell ein Strafverfahren erwachsen.

Die Unfallpraxis

Die DGUV-Statistik hält fest: 19 Arbeitsunfälle gibt es pro 1.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das höchste Risiko tragen Beschäftigte in sog. Baukonstruktionsberufen, also Maurerinnen und Maurer, Zimmerleute, Bautischler, Steinmetzinnen – mit 124 meldepflichtigen Arbeitsunfällen auf 1.000 Vollarbeiter. Es folgen Beschäftigte in der Abfallentsorgung (95), Berufe der Kinder- und Lernbetreuung mit 87 je 1.000 Arbeitnehmern, Bedienerinnen und Bediener mobiler Anlagen wie forstwirtschaftlicher Maschinen, Kräne, Gabelstapler (82), ferner Bedienerinnen und Bediener von Anlagen der Metallerzeugung und -umformung (78) und, mit 77 je 1.000 Beschäftigten, sog. Ausbaufachkräfte wie Dachdeckerinnen und Dachdecker, Boden- und Fliesenleger, Glaser u. Ä. Ebenfalls über dem Durchschnitt: Bäckerinnen und Bäcker, Konditoren, Fleischerinnen, Molkereifachkräfte, Schweißerinnen und Schweißer, Maschinenschlosser.

Arbeitsunfälle im Betrieb, die sogar tödlich endeten, gab es fast 300-mal (ohne Straßenverkehrs- und (Dienst-)Wegeunfälle). Gerade in Verbindung mit Dächern, Leitern, Gerüsten, aber auch in Verbindung mit Maschinen und Kränen kommt es selten zwar, doch immer wieder zu fatalen Kausalverläufen. Und zu addieren sind eben noch die Fälle im Zusammenhang mit Pkw und Lkw.

Die Strafverfahrenstheorie

Geschehen Unfälle, stellen sich viele Fragen: Warum? Was ist schiefgelaufen? Eigenverantwortliche Selbstgefährdung oder unverantwortliche Fremdgefährdung? Sind Regeln außer Acht gelassen worden: gesetzliche, arbeitsschutzrechtliche, innerbetriebliche? Gab es Schilder, Warnhinweise, Arbeitsschutzunterweisungen, Schulungen? Wer hat etwas getan, wer etwas unterlassen? Wer war zuständig, wer hat etwas delegiert, wer hätte trotzdem ein Auge darauf haben müssen?

Transponiert in einen juristischen Prüfungsaufbau, bedeutet das: Wurden Sorgfaltspflichten verletzt, deren kausale und objektiv zurechenbare Folge der Unfall war – hat sich also jemand wegen fahrlässiger Körperverletzung (§ 229 StGB) oder fahrlässiger Tötung (§ 222 StGB) schuldig und damit strafbar gemacht? Nach den Grundsätzen der Arbeitsteilung, aber auch der Zurechnungslehre können sich bei einem Unfall mehrere Personen strafrechtlich relevant verhalten haben – Organisationsverschulden ist das (oder ein) Stichwort.

Es kann also sein, dass nach einem Unfall mehrere Mitarbeitende, Vorgesetzte, Betriebsverantwortliche eine Vorladung erhalten, entweder zur Beschuldigtenvernehmung oder zur Zeugenvernehmung. Und spätestens ab diesem Moment, eigentlich schon ab dem Moment des Unfalls, gilt es zu handeln, zu agieren und nicht nur zu reagieren: mit juristischer Unterstützung.

Die Strafverfahrenspraxis

Denn obgleich Fahrlässigkeitsdelikte zum Pflichtkanon der ersten Jurasemester gehören, ist deren Anwendung in der Praxis häufig, gelinde gesagt, schwierig, man könnte auch sagen: fehlerbehaftet.

Das materielle Recht, also die Anwendung der Normen aus dem Strafgesetzbuch, ist deshalb kompliziert, weil der Sorgfaltsmaßstab anhand außerstrafrechtlicher (z. B. Arbeitsschutz-)Normen bestimmt werden muss. Die zu finden, zu verstehen, anzuwenden ist für uns Juristen, die meinen, alles zu können, doch zu häufig zu schwer. Ferner spielen die Grundsätze der vertikalen wie horizontalen Arbeitsteilung, der Pflichtendelegation, des Vertrauensgrundsatzes eine Rolle – und die Rechtsprechung hierzu ist komplex. Und es gibt bei der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit neben der offensichtlichen Frage nach der Sorgfaltspflichtverletzung noch zahlreiche weitere, eigenständige Tatbestandsmerkmale, die aber häufig übersehen und mit anderen verschliffen werden.

Die Rechtsanwendung wird dadurch verkompliziert, dass Menschen agieren, nicht nur auf Beschuldigtenseite, sondern auch auf Seiten der Strafverfolgungsbehörden Polizei und Staatsanwaltschaft. Geht etwas schief, liegt der Reflex nahe, es hinterher sowieso und besser gewusst zu haben – und damit werden die Tatbestandsmerkmale Sorgfaltspflichtverletzung, Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit tangiert. Durch eine zu frühe Meinungsbildung werden die zu stellenden Fragen, die Ermittlungen, die Schlussfolgerungen kontaminiert. Ein Einzelschicksal kann mehr triggern als eine abstrakte Rechtsfrage zur eigenverantwortlichen Selbstgefährdung. Fehlende Empathie, eine unzureichende Perspektivenübernahme – und schon verschieben sich Maßstäbe, auch auf Rechtsfolgenseite.

Denn nicht nur mit Blick darauf, wie man zu brauchbaren und richtigen Ermittlungsergebnissen gelangt, wie man also die richtigen Fragen stellt und sinnstiftend Gutachten in Auftrag gibt (was wir Juristen im Übrigen auch nicht lernen, sondern in der Praxis schlicht machen, mal besser, meist schlechter), sondern auch hinsichtlich des Umgangs mit den Ermittlungsergebnissen ist die juristische Praxis zu häufig praxis-, weil lebensfremd. Gerade Fahrlässigkeitsdelikte schreien danach, sich über Sinn und Zweck von Strafe Gedanken zu machen – was im Ergebnis dazu führen kann, einmal nicht anzuklagen, und sei es in Fällen von fahrlässiger Tötung, und stattdessen die Klaviatur der Strafprozessordnung, der StPO, ganz auszuspielen.

Fazit

FS-PP Berlin hat jahrzehntelange Erfahrung bei der Beratung und Verteidigung in Unfallsachverhalten unterschiedlichster Provenienz. Hierzu gehören Mandate bei Unfällen im Fern- und Regionalverkehr und im ÖPNV, Verteidigung bei Unfällen in Kindertagesstätten, das Medizinstrafrecht betreffend Ärztinnen und Ärzte und Pflegekräfte, Strafverfahren wegen umgestürzter Paletten und abgerutschter Stahlträger (die Menschen unter sich begruben), Unfälle auf Baustellen, in Fahrstuhlschächten und viele andere Unglücksfälle mehr, bei denen Personen zu Schaden gekommen sind. Wir beraten Unternehmensverantwortliche in der Kommunikation mit Polizei und Staatsanwaltschaft, verteidigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gegen strafrechtliche Vorwürfe, wir begleiten Zeuginnen als Zeugenbeistand zu Vernehmungen, wenn doch Gefahr droht oder das Unternehmen schlicht aus Fürsorge einen Zeugenbeistand bestellt.

Manchmal liegt nur ein schmaler Grat zwischen einem schicksalhaften Verlauf und Pech auf der einen und einer strafbaren Handlung auf der anderen Seite. Herauszuarbeiten, auf welcher Seite sich ein Sachverhalt verorten lässt, und die Entscheidung zu beeinflussen, wie darauf reagiert werden kann strafprozessual, bedarf einer sensiblen und juristisch versierten Verteidigung. Damit einem ersten Unglück kein zweites folgt.

Ansprechpartner
Dr. Sebastian T. Vogel