Schein und Sein sind zuweilen schwer zu unterscheiden. Und auch, wenn der BGH in einer aktuellen Entscheidung freier Mitarbeit in der Anwaltskanzlei auf den ersten Blick eine deutliche Absage erteilte, wird klar: Auch in Zukunft bleibt die Abgrenzung zwischen Scheinselbstständigkeit und „echter“ Selbstständigkeit komplex – in der Anwaltschaft wie in anderen Branchen. Insofern mahnt die Entscheidung für die Praxis zur Vorsicht, eröffnet einer fachkundigen Verteidigung aber zugleich Spielräume.

Der Ausgangsfall

Im erstinstanzlichen Urteil hatte das LG Traunstein einen Rechtsanwalt wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt nach § 266a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 StGB in 189 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und einer Gesamtgeldstrafe von 300 Tagessätzen verurteilt sowie die Einziehung des Wertes der Taterträge in Höhe von 118.850,58 € angeordnet.

Der Angeklagte hatte in seiner Kanzlei ein Modell „freier Mitarbeiterschaft“ etabliert. Vor Beginn der Tätigkeit schloss er mit jedem Mitarbeiter einen jeweils nicht individuell ausgehandelten, nahezu inhaltsgleichen Vertrag ab. Hiernach waren die „freien Mitarbeiter“ insbesondere verpflichtet, ihre Sozialabgaben selbst abzuführen. Ihnen wurde zudem vertraglich die Möglichkeit eingeräumt, eigenes Personal zu beschäftigen, eigenständig zu werben und monatlich einen in der Höhe identischen Teilbetrag ihres Entgelts abzurufen. Diese vertraglich eingeräumten Freiheiten liefen jedoch aufgrund einer Zusatzvereinbarung ins Leere: Hiernach musste der Angeklagte vor der Beschäftigung eigenen Personals, der Wahrnehmung von Mandaten außerhalb der Kanzlei sowie eigenen Werbemaßnahmen der Mitarbeiter sein Einverständnis erteilen.

Tatsächlich arbeiteten die „freien Mitarbeiter“ ausschließlich für die Kanzlei des Angeklagten, der ihnen auch die Mandate zuteilte. Sie verbrachten den Großteil der Arbeitszeit in den Kanzleiräumlichkeiten und nutzten in dieser Zeit auch deren Ressourcen auf Kosten des Angeklagten.

Nach den Feststellungen des LG wurden den zuständigen Einzugsstellen dadurch Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung in Höhe von 118.850,58 € vorenthalten.

Die Entscheidung des BGH

Mit seiner Entscheidung knüpft der BGH an die insbesondere vom Bundessozialgericht entwickelten Grundsätze zur Abgrenzung zwischen abhängiger Beschäftigung und selbständiger Tätigkeit an und wendet diese auf die Tätigkeit in Anwaltskanzleien an.

Insofern bleibt der „Indizienkatalog“, der sich in der Rechtsprechung für die Statusfeststellung herausgebildet hat, unverändert praxisrelevant. Maßgeblich ist und bleibt die Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalles. Auch aus dem Berufsbild des Rechtsanwaltes und den Regelungen der BRAO ergebe sich dem BGH zufolge „nichts wesentlich anderes“. Im Hinblick auf Tätigkeiten höherer Art – wie dem Anwaltsberuf – könne jedoch einzelnen Umständen ein höheres oder geringeres Gewicht zukommen. So seien das Unternehmerrisiko und die Art der vereinbarten Vergütung deutlich aussagekräftiger als die äußere Weisungsgebundenheit und die Eingliederung in den Betrieb.

Der Senat bestätigte, dass der vertraglichen Abrede allein keine maßgebliche Bedeutung zukommt. Der Bezeichnung als „freie Mitarbeiter“ komme insofern nur eine schwache Indizwirkung zu. Stattdessen sei auf die „gelebte Beziehung“ Rücksicht zu nehmen. In den Mittelpunkt seiner Beurteilung stellt der Senat das unternehmerische Risiko. Wer wie die Anwälte eine vom Erfolg der Kanzlei und der eigenen Arbeitsleistung unabhängige Vergütung erhalte, den träfe eben kein solches Risiko. Auch ein vereinbartes Kündigungsrecht des Kanzleiinhabers reiche dafür nicht aus.

Auch mit Blick auf die Tathandlung – das Vorenthalten gesetzlich geschuldeter Sozialversicherungsbeiträge – betonte der Senat die Sozialrechtsakzessorietät des § 266a StGB. So wies er zunächst erneut darauf hin, dass der Tatbestand keine Anwendung findet, wenn der Beschäftigte nicht der Versicherungspflicht unterfällt, etwa weil sein Gehalt die Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung übersteigt oder er von der Versicherungspflicht befreit ist. Insofern stellte der BGH klar, dass eine etwaige Befreiung von der Rentenversicherungspflicht aufgrund der Mitgliedschaft in einem berufsständischen Versorgungswerk für jede Beschäftigung aufs Neue beantragt werden muss. Beiträge, die ein abhängig Beschäftigter in der irrigen Annahme von Selbständigkeit, freiwillig aus seinem Vermögen an Einzugsstellen entrichtet, lassen dabei die Pflicht des Arbeitgebers, die von ihm geschuldeten Arbeitgeberbeiträge zu entrichten, nicht entfallen. Entsprechende Zahlungen des Beschäftigten schließen den Tatbestand des § 266a Abs. 1 StGB daher nicht aus, sondern seien erst im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen.

Folgerungen für die Praxis

Der Fall zeigt auf, dass eine Beschäftigung im Grenzbereich zwischen Anstellung und freier Mitarbeit mit ganz erheblichen Strafbarkeitsrisiken verbunden ist. Ohne die erforderliche Expertise kann aufgrund der im Einzelfall vorzunehmenden Gesamtbetrachtung wohl kaum eine rechtssichere Einschätzung getroffen werden. Dass sich der BGH in diesem Fall mit der Anwaltschaft auseinanderzusetzen hatte, sollte andere Branchen nicht ungerührt lassen. Im Gegenteil: Die Entscheidung macht deutlich, dass die Statusfeststellung nur unter Berücksichtigung der Besonderheiten der jeweiligen Branche erfolgen kann. Zudem macht es die strenge Sozialrechtsakzessorietät notwendig, sich auch mit den Regelungen des materiellen Sozialrechts auseinanderzusetzen. Für eine effektive Verteidigung bedarf es daher spezifischer Kompetenzen nicht nur im Wirtschaftsstrafrecht, sondern auch im Sozialversicherungsrecht.