Die streng formale Betrachtungsweise, auch sozial-normative Betrachtung genannt, kann dazu führen, dass eine medizinische Leistung lege artis erbracht wird und gleichwohl in Gänze nicht nur nicht abgerechnet werden kann, sondern deren Abrechnung auch in voller Höhe einen Betrugsschaden begründet. Obgleich diese Betrachtung sehr streng ist, sind manche Staatsanwaltschaften zuweilen noch strenger. Hier meinte das OLG Karlsruhe: zu streng. Eine Anklage der Staatsanwaltschaft zum Landgericht wegen eines Betrugsschadens in Höhe von fast 1.200.000,00 € korrigierte das OLG nach unten: Verhandlung vor dem Amtsgericht, Schadenssumme von nur 804,00 €.

Der Fall

Die Staatsanwaltschaft Karlsruhe legte dem Angeklagten, einem niedergelassenen (Vertrags-)Arzt, mit ihrer zum Landgericht Karlsruhe erhobenen Anklage wegen Betrugs (§ 263 StGB) zur Last, in fünf Quartalen 37 Corona-Schutzimpfungen im Wege der quartalsweise abzugebenden Sammelabrechnung über das Abrechnungssystem der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) abgerechnet, aber tatsächlich nicht durchgeführt zu haben. Die Vornahme solcher Schutzimpfungen wurde gemäß § 6 Abs. 1 S. 1 CoronaImpfV zunächst grundsätzlich mit jeweils 20,00 €, später mit jeweils 28,00 € vergütet. Die Kunden des Angeklagten sollen diesem der Anklage nach jeweils ein Entgelt in Höhe von 50,00 € in bar bezahlt haben, woraufhin der Angeklagte ihnen die angebliche Durchführung der Schutzimpfung in deren Impfpass bescheinigt habe. Die Staatsanwaltschaft, die aufgrund der jeweils quartalsweise eingereichten Abrechnungsdateien samt Sammelerklärung in Papierform (unter anderem) von einer entsprechenden Betrugstat pro Quartal ausging, legte bei der Berechnung des Vermögensschadens der fünf angeklagten Betrugstaten die Höhe des gesamten durch die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) quartalsweise ausgezahlten Honorars zugrunde und berechnete auf diese Weise einen Gesamtschadensbetrag in Höhe von 1.199.004,52 € aufgrund zu Unrecht erhaltener Gebühren. Weitere dem Angeklagten vorgeworfene Taten sollen im Folgenden ausgeblendet werden; es handelt sich dabei um den Besitz kinder- und jugendpornografischer Inhalte.

Das Landgericht Karlsruhe indes hat das Verfahren nur vor dem Amtsgericht Karlsruhe eröffnet. Der Angeklagte sei „lediglich“ der unrichtigen Dokumentation einer Schutzimpfung gegen das Corona-Virus in 33 Fällen, davon in sechs Fällen in Tateinheit mit Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse, des Betrugs in fünf Fällen sowie des Besitzes kinderpornografischer Inhalte in Tateinheit mit Besitz jugendpornographischer Inhalte hinreichend verdächtig. Die fehlende Zuständigkeit des Landgerichts begründete es u. a. damit, dass die Straferwartung niedriger sei als von der Staatsanwaltschaft angenommen; es ging von einem Schaden weit unter 1,2 Mio. € aus.

Gegen diesen Beschluss hat die Staatsanwaltschaft Karlsruhe sofortige Beschwerde eingelegt, der die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe beitrat.

Die Entscheidung

Das OLG Karlsruhe hat die sofortige Beschwerde als unbegründet verworfen und die Entscheidung des Landgerichts, das Verfahren lediglich vor dem Amtsgericht zu eröffnen, bestätigt (Beschluss vom 10.04.2024 – 1 Ws 80/24). Denn es liege nicht, wie von der Staatsanwaltschaft angenommen, ein Schaden in Höhe von 1.199.004,52 € vor, sondern von nur 804,00 €.

Der Vermögensschaden der angeklagten Betrugstaten entspreche genau derjenigen Summe, die der angeklagte Arzt für abgerechnete, tatsächlich aber nicht ausgeführte Corona-Schutzimpfungen zu Unrecht als Honorar durch die KVBW erhalten habe: 804,00 € für 37 vermeintliche Luftleistungen. Hingegen sei für die Berechnung des Vermögensschadens nicht, wie die Staatsanwaltschaft noch meinte, das gesamte den Quartalsabrechnungen zugrundeliegende Honorar des Angeklagten im Ganzen entscheidend, weil im Übrigen – soweit ersichtlich – keine Auffälligkeiten hinsichtlich der erbrachten Abrechnungen bestünden.

Daran änderten auch die von der Staatsanwaltschaft angeführten höchstrichterlichen Grundsätze zur Schadensbestimmung beim Abrechnungsbetrug anhand der sog. „streng formalen Betrachtungsweise“ nichts. Nach diesen Grundsätzen besteht ein Vermögensschaden bereits dann, wenn der Arzt eine Leistung abrechnet, die aus formalen Gründen, nämlich nach den entsprechenden Vorgaben des jeweiligen Abrechnungssystems, nicht abrechenbar ist. Eine solche Leistung ist nicht erstattungsfähig, sodass eine entsprechende Honorarzuweisung einen Vermögensschaden begründet. In Fällen, in denen ein sog. Qualifikationsmangel vorliegt, kann dies zur Folge haben, dass Quartalsberechnungen insgesamt den Vermögensschaden darstellen, weil sämtliche Leistungen nicht abrechenbar sind. Dass die erbrachten Leistungen medizinisch indiziert und lege artis ausgeführt sein mögen, ist aufgrund der streng formalen Betrachtungsweise unbeachtlich. Ob insoweit Aufwendungen erspart wurden, weil bei anderweitiger Behandlung durch eine hinreichend qualifizierte Person dieselben Kosten entstanden wären, ist nicht zu berücksichtigen.

Diese streng formale Betrachtungsweise führe aber, so das OLG, nicht dazu, dass die Abrechnung einer nicht erbrachten Leistung in einem Quartal die gesamte Quartalsabrechnung im Sinne eines Gesamtvermögensschadens kontaminiere. Der Angeklagte war hier grundsätzlich berechtigt, an der durch die kassenärztliche Vereinigung erfolgenden Verteilung der von den Kassen bezahlten Honorare teilzunehmen. Die von ihm begangenen Abrechnungsfehler waren klar abgrenzbare Honorarbestandteile, sodass auch nur diese einen Schaden – jede für sich – zu begründen vermochten. In die Schadensberechnung durften mithin nur die vermeintlichen 37 Luftleistungen eingehen, nicht sämtliche Leistungen aus den fünf Quartalen. Diese wurden nicht von den 37 Luftleistungen infiziert.

Konsequenz

Die streng formale Betrachtungsweise lässt einen Betrugsschaden zu, selbst wenn die Leistungen medizinisch korrekt erbracht sein mögen. In den Fällen, in denen Leistungen von einem Arzt ohne Kassenzulassung über einen Strohmann abgerechnet werden, Leistungen von nicht hinreichend qualifizierten Mitarbeitern erbracht werden (also ärztliche Leistungen durch Nichtärzte oder Pflegeleistungen, die vollständig durch Mitarbeiter erbracht werden, die nicht über die mit der Kranken- und Pflegekasse vertraglich vereinbarte Qualifikation verfügen) oder in denen sonstige formale Fehler vorliegen, die eine Abrechnung sperren, ist ein Betrugsschaden weiterhin in Höhe der gesamten Abrechnung möglich.

Es gibt aber immer wieder „kreative“ Versuche von Staatsanwaltschaften, die streng formale Betrachtungsweise noch strenger auszulegen – und diese Konstellation hier (die wir bei FS-PP Berlin auch schon erfolgreich wegverteidigt haben) ist nicht die einzige. Ungeachtet der übrigen Tatbestandsmerkmale (Täuschung, Irrtum, Verfügung, Kausalitäten, subjektiver Tatbestand) findet sich doch auch beim Vermögensschaden regelhaft der eine oder andere Ansatzpunkt.

FS-PP Berlin steht für kreative, vom Standarddenken auch einmal abweichende Gedankengänge – in der Verteidigung. Kreativen Ideen bei Staatsanwaltschaften hingegen, um möglichst harte Strafen zu erzielen oder überhaupt eine Strafbarkeit zu konstruieren, schieben wir aber gern einen Riegel vor.

Ansprechpartner
Dr. Sebastian T. Vogel