Der Bundesgerichtshof hat in seinem Beschluss vom 11. November 2020 (5 StR 256/20) das sog. Gemini-Urteil des Landgerichts Berlin dem Grunde nach bestätigt. Danach hätten sich die beteiligten Geburtsmediziner wegen Totschlags in einem minder schweren Fall strafbar gemacht, indem sie im Rahmen einer Zwillingsschwangerschaft das gesunde der beiden Kinder mittels Kaiserschnitt entbanden und im unmittelbaren Anschluss daran den schwer geschädigten Zwilling töteten. Es habe sich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr um eine Schwangerschaft gehandelt, bei der ein Abbruch nach § 218a Abs. 2 StGB möglich gewesen sei, sondern das Kind sei ein Mensch im Sinne der §§ 211 ff. StGB gewesen. Während der BGH den Schuldspruch damit aufrechterhielt, beanstandete er lediglich die Strafzumessung. Zu dieser Entscheidung, einen Totschlag dem Grunde nach anzunehmen, kann man kommen – wenn man es ordentlich begründet. Das haben weder das LG Berlin noch der BGH vermocht. Insbesondere der 5. Strafsenat des BGH in Leipzig zeigt – nach den Urteilen zum Göttinger Organallokationsskandal (5 StR 20/16) und zur Strafbarkeit bei ärztlich assistierten Selbsttötungen (5 StR 132/18) – einmal mehr, dass gerade juristisch tragfähige Begründungen in medizinstrafrechtlichen Fällen so einfach nicht sind. Auch in dieser Entscheidung hier „menschelt“ es in Leipzig.

Der Fall

Nach den Feststellungen des Landgerichts war eine Frau mit Zwillingen schwanger. Während der Schwangerschaft entwickelten sich Komplikationen. In deren Folge erlitt ein Zwilling schwere Hirnschäden, während sich der andere überwiegend normal entwickelte. Nach Beratung wurde die Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch bezüglich des geschädigten Zwillings nach § 218a Abs. 2 StGB gestellt. Ein solcher Abbruch kann bei entsprechender Indikation straffrei bis zur Geburt vorgenommen werden. Dieser spezielle Eingriff (selektiver Fetozid) ist aber mit Risiken für den anderen Zwilling verbunden. Die Mutter wollte den Abbruch vornehmen lassen und wandte sich schließlich an die angeklagte Geburtsmedizinerin. Diese war als leitende Oberärztin in einer von dem mitangeklagten Arzt geleiteten Klinik für Geburtsmedizin tätig. Die Angeklagte habe sodann im Einvernehmen mit dem Mitangeklagten und der Mutter den Plan entwickelt, mittels Kaiserschnitt zunächst das gesunde Kind zu entbinden und im unmittelbaren Anschluss daran den schwer geschädigten Zwilling zu töten. Nachdem sich bei der Mutter Wehen eingestellt hatten, gingen beide Angeklagte wie geplant vor und töteten nach Entbindung des gesunden Zwillings den lebensfähigen, aber schwer hirngeschädigten verbleibenden Zwilling durch Injektion einer Kaliumchlorid-Lösung. Dabei sei ihnen bewusst gewesen, dass sie sich über geltendes Recht hinwegsetzen und einen Menschen töten würden.

Die Entscheidung

Nachdem das Landgericht Berlin beide Mediziner wegen Totschlags in einem minder schweren Fall verurteilt hat, hat der BGH diese Entscheidung dem Grunde nach gehalten. Der getötete Zwilling sei im Zeitpunkt der tödlichen Einwirkung bereits ein Mensch im Sinne der §§ 211 ff. StGB gewesen und nicht mehr eine lediglich von § 218 StGB geschützte Leibesfrucht. Die Abgrenzung zwischen §§ 211 ff. StGB und § 218 StGB werde von der höchstrichterlichen Rechtsprechung vom Beginn der Geburt abhängig gemacht. Es komme mithin nicht auf die Vollendung der Geburt an, weil das Kind gerade in der mit Risiken für Gesundheit und Leben verbundenen Geburtsphase besonderen Schutzes – auch vor fahrlässigen Einwirkungen – bedürfe. Dass im Zivilrecht die Rechtsfähigkeit erst ab Vollendung der Geburt beginnt, sei auf Grund des abweichenden Regelungszwecks von Zivil- und Strafnormen nicht ausschlaggebend. Hier habe die Geburt des getöteten Zwillings im Zeitpunkt der tödlichen Einwirkung deshalb bereits begonnen gehabt.

Zwar habe hier kein natürlicher Geburtsverlauf vorgelegen, weshalb nicht auf das Einsetzen der Eröffnungswehen abgestellt werden könne. Allerdings begännen bei einem Kaiserschnitt die Geburt und damit der Anwendungsbereich der §§ 211 ff. StGB mit der Eröffnung des Uterus zum Zweck der Beendigung der Schwangerschaft durch Entnahme des Kindes aus dem Mutterleib – was hier der Fall gewesen sei. Entscheidend sei, dass mit der Eröffnung des Uterus (in vergleichbarer Weise wie bei dem Beginn einer natürlichen Geburt) ein Abbruch des begonnenen Geburtsvorgangs regelmäßig praktisch nicht mehr in Betracht komme, der Nasciturus damit erstmals direkt von dem Geburtsvorgang betroffen sei und das in aller Regel ein eindeutiges Ende der Schwangerschaft im Sinne von § 218 StGB bewirke. Diese objektive Grenzziehung bedürfe lediglich auf Grund der medizinischen Möglichkeiten, den Uterus zu fetalchirurgischen Zwecken zu öffnen und wieder zu verschließen, um die Schwangerschaft anschließend fortdauern zu lassen, einer Einschränkung dergestalt, dass in subjektiver Hinsicht die Gebärmutter zu dem Zweck eröffnet werden müsse, den Fetus dauerhaft vom Mutterleib zu trennen und damit die Schwangerschaft zu beenden. Das sei hier aber der Fall gewesen, wobei es irrelevant sei, dass es sich um eine Mehrlingsgeburt gehandelt habe. Auch die Möglichkeit von zeitversetzten Geburten ändere hieran nichts. Zwar mag in derartigen Fällen der Geburtsbeginn hinsichtlich der verschiedenen Feten unterschiedlich zu bestimmen sein, sich also die Geburt eines Zwillings nicht von der Geburt des anderen Zwillings ableiten. Ein solcher Fall einer zeitversetzten Geburt habe aber nicht vorgelegen; vielmehr habe hinsichtlich beider Zwillinge die Schwangerschaft plangemäß dadurch geendet, dass beide nach einmalig erfolgter Öffnung des Uterus aus dem Mutterleib entfernt wurden.

Die Angeklagten hätten ferner vorsätzlich gehandelt und seien nicht im Irrtum gewesen. Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe habe das LG Berlin rechtsfehlerfrei ausgeschlossen. Zum Ersten sei im Zeitpunkt der Tötung des zweiten Zwillings von diesem keine Gefahr (mehr) für den bereits abgenabelten ersten Zwilling ausgegangen. Hinsichtlich der Kindesmutter bestand, zweitens, zwar eine Indikation nach § 218a Abs. 2 StGB. Diese kann nach der gesetzlichen Systematik indes lediglich eine Spätabtreibung, nicht aber die Tötung eines Menschen im Sinne der §§ 211 ff. StGB rechtfertigen. Zum Dritten sei eine analoge Anwendung von § 218a Abs. 2 StGB im vorliegenden Fall nicht veranlasst, weil schon keine planwidrige Regelungslücke gegeben sei. Viertens scheide ein Verbotsirrtum nach § 17 StGB aus, weil beiden Angeklagten bewusst gewesen sei, dass sie sich über geltendes Recht hinwegsetzten und einen Menschen töteten.

Beanstandet hat der BGH einzig die Strafzumessung. Das Landgericht habe fehlerhaft strafschärfend bewertet, dass die Tat nicht etwa in einer schnelle Entscheidungen erfordernden Notfallsituation begangen worden sei, sondern die Ärzte vielmehr planvoll ein mehr als zwei Wochen zuvor verabredetes Vorgehen umgesetzt hätten. Denn eine längere Planung sei nicht Ausdruck krimineller Energie, sondern eine Pflicht von Ärztinnen und Ärzten.

Kritik an der Entscheidung

Sowohl das Landgericht Berlin als auch der BGH haben sich aufdrängende Fragen nicht gestellt bzw. sie unzureichend beantwortet. Konzediert sei: Zu einer Verurteilung kann man gelangen, weil hier Rechtsmeinungen aufeinanderprallen, die keine zwingend richtigen und zwingend falschen Antworten kennen. Aber: Eine Entscheidung diesbezüglich erfährt nur dann Legitimation, wenn sie gut begründet ist. Gut begründet ist keine der beiden Entscheidungen. Das betrifft die Frage der Tatbestandsmäßigkeit, weil eben zu keiner Zeit (subjektiv) die Intention bestand, den geschädigten Zwilling zu gebären. Das betrifft auch die Frage des Verbotsirrtums, weil die Frage der Vermeidbarkeit nicht hinreichend thematisiert worden ist.

Hierzu hat Rechtsanwalt Dr. Sebastian T. Vogel von FS-PP Berlin bereits zu dem erstinstanzlichen Urteil in der Zeitschrift Gesundheitsrecht Stellung bezogen, zusammen mit dem Pränatalmediziner Dr. Gasiorek-Wiens (GesR 2020, 613). Die dort vorgebrachten Argumente gelten zu der BGH-Entscheidung nicht minder.

Einmal mehr zeigt sich damit, dass Vorwürfe auf dem Gebiet des Medizinstrafrechts eine besondere Herausforderung für alle Beteiligten sind. Und wer sich die beiden Entscheidungen hier betrachtet, erkennt, warum es bei den Zivilgerichten Kammern und Senate mit der Spezialzuständigkeit für Arzthaftungssachen gibt. In der Strafjustiz, auch bei den Staatsanwaltschaften, sucht man Expertinnen und Experten auf dem Gebiet des Medizinstrafrechts oft vergebens.

Ansprechpartner
Dr. Sebastian T. Vogel