Wer sich in einer schwierigen Lage befindet, etwa im Endstadium unheilbar krank ist und – trotz der Möglichkeit palliativmedizinischer Angebote – freiverantwortlich, wohlerwogen und ernstlich den Wunsch nach einem selbstbestimmten Sterben hegt, sieht sich aktuell einem Dilemma ausgesetzt. Will er nicht seine Angehörigen, die er eigentlich um sich zu haben wünscht, bevor die den eigenen Tod herbeiführenden Medikamente ihre Wirkung entfalten, der Gefahr eines Strafverfahrens aussetzen, wird ein Sterben in Einsamkeit als die rechtssicherste Variante anempfohlen werden müssen – dem OLG Hamburg sei „dank“, das in einem Beschluss vom 8. Juni 2016 (1 Ws 13/16) das Unterlassen von Rettungsmaßnahmen bei freiverantwortlichem Suizid als versuchte Tötung auf Verlangen durch Unterlassen bewertet hat. Wiewohl diese Entscheidung inhaltlich falsch ist, sie der unmissverständlichen Tendenz der neueren BGH-Rechtsprechung zuwiderläuft und auch Landgerichte und Staatsanwaltschaften in Entscheidungen neueren Datums mehr Rechtskenntnisse zeigen, ist der Beschluss des OLGs Hamburg aber zumindest geeignet, für Unsicherheit bei Heilberufsangehörigen, den Betroffenen selbst und deren Verwandten zu sorgen.

Der Fall

Eine 85-jährige und eine 81-jährige Frau, beide zunehmend multimorbid, aber nicht schwerstkrank, fassten nach mindestens zweijähriger Befassung mit dem Thema den Wunsch, sich mit Blick auf ihr zunehmendes Alter, verstetigende Einschränkungen und Krankheitsbeschwerden zu suizidieren. Über eine Verweisung lernten sie einen Facharzt für Neurologie und Psychiatrie kennen, der zunächst nur ein „neurologisches und psychiatrisches Gutachten zur Frage der Einsichts- und Urteilsfähigkeit und Wohlerwogenheit bei einem Suizid-Beihilfe-Wunsch“ erstellte, jedoch später von den Frauen dazu bewogen werden konnte, sie bei ihrem Vorhaben weiter zu unterstützen. Zu einem vereinbarten Termin erschien der Arzt, der in keinem Behandlungsverhältnis mit den beiden Frauen stand, wobei er die zur Tötung vorgesehenen Medikamente in großer Menge mitgebracht habe. Beide Frauen nahmen die Medikamente, in Wasser gelöst, ein. Etwa acht bis neun Minuten nach der Einnahme wurden beide müde und schliefen um 13:22 Uhr bzw. 13:23 Uhr ein. Der während dieser Zeit anwesende Arzt vermochte gegen 14:16 Uhr bzw. 14:22 Uhr nur noch sehr schlecht einen Puls festzustellen; 14:24 Uhr blieb die Spontanatmung bei beiden aus. Zur Sicherheit wartete der Arzt noch eine halbe Stunde, ehe er telefonisch seinen Verteidiger und sodann die Feuerwehr verständigte. Auf Nachfrage der Feuerwehr bejahte er den sicheren Tod und verneinte die Notwendigkeit eines Rettungswagens.

Die Entscheidung

Die Staatsanwaltschaft klagte den Arzt wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft an, weil er die Suizidentinnen vermittels seines Gutachtens über die Freiverantwortlichkeit und „Wohlerwogenheit“ ihres Sterbewunsches dadurch getäuscht habe, dass keine vollständige Aufklärung und Beratung über Lebensalternativen erfolgt sei. Die Schwurgerichtskammer lehnte die Eröffnung des Hauptverfahrens ab, woraufhin die Staatsanwaltschaft sofortige Beschwerde einlegte.

Das Oberlandesgericht verneinte einen hinreichenden Tatverdacht des Totschlags in unmittelbarer sowie mittelbarer Täterschaft, weil die Tatherrschaft uneingeschränkt bei den Suizidentinnen lag bzw. der Selbsttötungsentschluss freiverantwortlich war; letzteres u. a. deshalb, weil eine Aufklärungs- und Beratungspflicht mangels Behandlungsauftrages nicht bestand und das Gutachten auch wahrscheinlich korrekt war.

Eine Tötung auf Verlangen durch Unterlassen scheide deshalb aus, weil Rettungsbemühungen nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erfolgreich gewesen wären angesichts des Alters der Suizidentinnen, der hohen Medikamentendosis und des engen Zeitfensters zwischen Medikamenteneinnahme und Todeseintritt.

Jedoch bejahte das OLG einen hinreichenden Tatverdacht einer versuchten Tötung auf Verlangen durch Unterlassen, §§ 216, 13, 22, 23 StGB, weil der Arzt nach Eintritt der Bewusstlosigkeit keinen Rettungswagen verständigte und auch nach Aussetzen von Puls und Spontanatmung noch eine halbe Stunde wartete, bis er die Feuerwehr kontaktierte. Der Arzt sei, so das OLG, Garant gewesen zur Verhinderung des Todeserfolgs; insbesondere habe er um die Gefahrenquelle gewusst, die er durch Mitbringen der Medikamente selbst geschaffen habe, zumal er dadurch auch vermeintlich gegen die ärztlichen Standesregeln verstieß, wobei das Gericht auf § 16 der Musterberufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte (Stand: 2015) rekurriert. Hinsichtlich der objektiven Rettungspflicht sei die Rechtsprechung des BGHs aus dem Jahre 1984 (Urt. v. 04.07.1984 – 3 StR 96/84) nach wie vor gültig, wonach die Tatherrschaft mit Eintritt der Bewusstlosigkeit auf den Garanten übergehe, der ab diesem Zeitpunkt – trotz zuvor geäußerten Sterbewunsches des Suizidenten – rettungspflichtig werde. Ein seither deutlich gewordener gesellschaftlicher Wertewandel ändere nichts daran, dass diese höchstrichterliche Rechtsprechung fortgelte.

Kritik an der Entscheidung

Der im Medizinstrafrecht Versierte wird sich des Eindrucks nicht erwehren können, dass das OLG Hamburg auf dogmatisch konsistente Argumente und eine auch nur im Ansatz brauchbare Begründung nicht deshalb verzichtet hat, weil die beteiligten Richter nicht dazu fähig wären, sondern weil die zu genau dieser Konstellation bisher fehlende höchstrichterliche Entscheidung herbeigeführt werden sollte – freilich auf Kosten des hier angeklagten Arztes. Anders ist es nicht zu erklären, dass das OLG etwa auf die Grundsatzentscheidung des BGHs zum Behandlungsabbruch (Urt. v. 25.06.2010 – 2 StR 454/09) überhaupt nicht eingeht, der zufolge es erlaubt ist, eine Behandlung (etwa eine künstliche Ernährung) abzubrechen, ohne mit Eintritt der Bewusstlosigkeit sofort wieder handlungspflichtig zu werden. Wenn aber dort der Wille des Patienten rechtlich „stark“ genug ist, den Arzt aus seiner Rettungspflicht zu entbinden, ist nicht einsichtig, warum der Wille des Suizidenten nicht ebenso stark sein soll. Zumal auch derjenige, der sich mit Medikamenten zu suizidieren sucht, in einen Zustand gelangt, der einer lebensbedrohlichen Erkrankung, wie sie der BGH fordert (Urt. v. 25.06.2010 – 2 StR 454/09, Rn. 33, zit. nach juris), vergleichbar ist.

Im Ergebnis wird die Entscheidung des OLGs Hamburg eine vereinzelte Meinung bleiben, die der BGH bei nächster Gelegenheit korrigieren wird.

Ärzte, so sie sich nicht wegen § 217 StGB strafbar machen, sind also auch weiterhin nicht gehalten, nach Übergabe des Medikaments den Raum zu verlassen. Gleiches gilt für Angehörige, denen das OLG Hamburg aber eine (man möchte hoffen: nicht angesägte) Brücke dadurch baut, dass es jedenfalls die Möglichkeit nicht ausschließt, bei Angehörigen von Sterbewilligen mit einer schweren Erkrankung könne das Ergebnis anders ausfallen als in diesem Fall.

Die Kanzlei Fachanwälte für Strafrecht am Potsdamer Platz mbB, namentlich die Fachanwälte für Strafrecht Dr. Niklas Auffermann und Dr. Rainer Frank sowie Rechtsanwalt Dr. Sebastian T. Vogel, beraten Sie zu diesen und ähnlichen rechtlichen Fragen gern.

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Dr. Sebastian T. Vogel