Nachdem der Große Senat des Bundesgerichtshofs für Strafsachen 2012 entschied, dass niedergelassene Vertragsärzte keine Beauftragten der Krankenkassen seien, mithin der die Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr regelnde § 299 StGB keine Anwendung finde, stimmten Literatur und (zumindest obiter dicta) die Rechtsprechung schon den Abgesang auf die Vertragsarztuntreue an. Den, der kein Beauftragter der Krankenkasse sei, könne auch keine Vermögensbetreuungspflicht dieser gegenüber treffen. Der BGH indes mochte hierin nicht einstimmen und hat eine Bestrafung eines Arztes wegen Untreue zu Lasten der betroffenen Krankenkassen bestätigt (BGH, Beschl. v. 16.08.2016 – 4 StR 163/16).

Der Fall

Der angeklagte Arzt, als Chirurg und Durchgangsarzt Betreiber einer eigenen Praxis und zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen, arbeitete als „Kooperationsarzt“ mit Gesundheitszentren zusammen, in denen unter anderem Physiotherapie und Krankengymnastik angeboten wurden. Die Betreiber der Gesundheitszentren waren zur Abgabe physiotherapeutischer Leistungen von den Krankenkassen zugelassen.

In den Jahren 2005 bis 2008 erstellte der angeklagte Arzt in insgesamt 479 Fällen Heilmittelverordnungen für physiotherapeutische Leistungen – ohne dass zuvor Untersuchungen oder Konsultationen mit den „Patienten“ erfolgten oder überhaupt eine medizinische Indikation bestand. Der Arzt erhielt vielmehr von den Betreibern der Gesundheitszentren Krankenversicherungskarten von Angestellten der Zentren und Spielern eines Fußballvereins, die der Angeklagte als Mannschaftsarzt sowie die Betreiber der Zentren unentgeltlich (physiotherapeutisch) betreuten. Die Heilmittelverordnungen leitete der angeklagte Arzt sodann den Betreibern der Gesundheitszentren zu. Diese ließen sich die Erbringung der vom Angeklagten verordneten Leistungen von den „Patienten“ bestätigen, obwohl sie in keinem der Fälle erbracht worden waren. Anschließend wurden sie von den Zentrumsbetreibern (kassen- und monatsweise zusammengefasst durch insgesamt 217 Handlungen) bei verschieden Krankenkassen eingereicht und von diesen in der Annahme, die verordneten Leistungen seien erbracht worden, in Höhe von insgesamt 51.245,73 € bezahlt.

Die Entscheidung

Das Landgericht verurteilte den Arzt wegen Untreue in 479 Fällen und Beihilfe zum Betrug in 217 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr (auf Bewährung). Der BGH monierte zwar die Verurteilung wegen Beihilfe zum Betrug, weil es sich dabei um lediglich mitbestrafte Nachtaten handelte, hielt jedoch die Verurteilung wegen Untreue sowie den Schuldspruch in Gänze aufrecht.

Einem Vertragsarzt obliege eine Vermögensbetreuungspflicht im Sinne des § 266 Abs. 1 StGB gegenüber den Krankenkassen zumindest dergestalt, Heilmittel nicht ohne medizinische Indikation sowie in der Kenntnis zu verordnen, dass die verordneten Leistungen nicht erbracht, indessen aber gegenüber den Krankenkassen abgerechnet werden. Denn auch der Vertragsarzt sei Adressat des Wirtschaftlichkeitsgebots, was sich aus den §§ 12 Abs. 1, 70 Abs. 1 und 2 Abs. 4 SGB V ergebe. Er erkläre mit der Heilmittelverordnung in eigener Verantwortung gegenüber dem Versicherten, dem nichtärztlichen Leistungserbringer und der Krankenkasse, dass alle Anspruchsvoraussetzungen des Versicherten auf das verordnete Heilmittel aufgrund eigener Überprüfung und Feststellung erfüllt sind, mithin das verordnete Heilmittel nach Art und Umfang geeignet, ausreichend, notwendig und eben auch wirtschaftlich sei, um die festgestellte Krankheit zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder die festgestellten Krankheitsbeschwerden zu lindern.

Bei dieser Pflicht zur Wahrung des Wirtschaftlichkeitsgebotes handele es sich auch um eine Hauptpflicht, weil die bestmögliche Nutzung der vorhandenen Ressourcen dem Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter diene, etwa der Sicherung der finanziellen Stabilität und damit der Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung. Dem stehe auch nicht entgegen, dass die Grundpflicht des Arztes auf die Wahrung der Interessen der Patienten gerichtet ist; die Pflicht zur Einhaltung des Wirtschaftlichkeitsgebots stehe als eine weitere Hauptpflicht schlicht daneben. Gleichfalls sei es irrelevant, dass eine unmittelbare Beziehung zwischen Arzt und Krankenkasse nicht bestehe, weil ein (hier gegebener) mittelbarer vermögensschützender Charakter genüge.

Eine Untreue sei, weil das Wirtschaftlichkeitsgebot hier verletzt und auch ein Vermögensnachteil bei den Krankenkassen eingetreten seien, deshalb zu bejahen.

„Flächendeckende“ Strafbarkeitsrisiken für Ärzte

Diese Entscheidung illustriert, dass neben möglichen Behandlungsfehlervorwürfen auch das wirtschaftliche Handeln des Arztes immer häufiger Ansatzpunkt für staatsanwaltschaftliche Ermittlungen ist. Zu den relativ häufig vorkommenden Vorwürfen des Abrechnungsbetrugs (und alsbald auch möglichen Korruptionsverfahren) werden künftig – befeuert durch diese Entscheidung – vermehrt auch Untreueverfahren gegen Vertragsärzte eingeleitet werden, wenn das Gebot der Wirtschaftlichkeit verletzt wurde. Dass Krankenkassen und/oder KVen dieses Lied anstimmen werden, ist zumindest eine Wette wert.


Ansprechpartner
Dr. Sebastian T. Vogel